Vom Himbeeressen und vom Landschaftsmalen
Die ersten Himbeeren sind reif. Da und dort brockt man sich welche in die Hand.
Doch man will den vollen Genuss! Ich pflücke mir so viele wie nur in einer Hand
Platz finden, und auch noch in die andere soweit das geht. Und alle dann auf einmal in den Mund, bis dieser randvoll, ja bis zur Nasenspitze voll. Welch ein Genuss!
- Einige Wochen später, eine einzelne Beere, eher klein und fest, so gar nicht recht
rot, im Vorbeigehen mit den Fingern gezupft . Und dieses kleinwinzige Etwas:
alles was war, wo möglich, wenn denkbar, noch stärker, schmeckt wie noch keine!
Vielleicht steht es ähnlich um die Landschaftsmalerei? Nach all diesen Bildern, da
und dort, eher selten und beiläufig, oft gar nicht gesucht, ein Bild, das in Bewegung
setzt. - Ich bin aber kein Landschaftsmaler, will keiner sein. Bisweilen begegnet mir
die Landschaft, und trifft mich quasi auf halbem Wege bei meinem Malgeschäft.
Sommer 1997
Michael Ziegler. Brüchige Striche – brüchige Körper
Seine Linienkunst schleicht sich auf eine befremdende Art und Weise in die Phantasie der
Betrachtenden. Das nicht leicht erklärbare Unheimliche daran fokussiert auf jene Kippe der
Wahrnehmung, in der aus einem scheinbar vertrauten Alltagsgegenstand ein Objekt
symbolischer Schwere wird. Die Pentimenti, das wiederholte Ansetzen des Zeichenstifts
unterstützen dieses Zwischenreich der Sinne. Die dargestellten Körper versuchen sich in
diesen Räumen wie in Trance zu orientieren. Einige Details erhalten plötzlich den Rang eines
heftigen Bezugs unter der Regentschaft von Eros und Thanatos. Da werden die Brustwarzen
einer Frau überdeutlich bei der Beobachtung von einem tollpatschigen Vogel, der gerade aus
dem Käfig entwich – die Beine werden scheu überkreuzt. Da wird eine verschwiegene Ecke
verschwindend klein im Verhältnis zu einer Reihe an Paaren, die in den Berührungen und
Verschränkungen den Raum erst generieren und die geometrischen Koordinaten auf die
Stufe des Sekundären degenerieren – die Verschwiegenheit rechnet mit der Wollust im
öffentlichen Privatissimum. Da wird ein labiles Gleichgewicht an Objekten erzielt, dessen
Mitspieler und ihre Aktion kaum festzumachen ist. Wir werden auf Deutungsreisen
geschickt, mit unbestimmtem Ausgang. Die Relation von Bild und Titel tut ein Übriges, um
den Wahrnehmungsprozess anzustoßen.
Die Zeichenkunst von Michael Ziegler beruht auf dem sensitiven Strichcode von Lust und
Unlust, die jeweils zu decodieren sind. Verweigerung und Öffnung liegen gefährlich nah
beieinander. Die erotisierten Akteure werden mit jedem Blatt aufs Neue zu Erkundungen des
sexuellen Ungewissen geschickt – mit Gewinn. Die Pentimenti, die von ihrem Ursprung her
als mehrfache Korrekturen auf der Suche nach einem endgültigen, passenden Strich zu
werten sind, möge man gelassen ins Deutsche übersetzen, Reuestriche. Nur Reue zeigt das
Personal dieser Bilder keine. Mit einem Schlag wird klar, dass das wiederholte Ansetzen des
Zeichenstifts das stete, neugierige und gierige Vortasten in eine Welt des Abgründigen
bedeutet, fast mit der Schuld und Unschuld von Adoleszenten. Die Pentimenti kehren sich in
ihr Gegenteil um, sie bekommen einen hohen Grad an Selbstständigkeit.
Die Körperkunst von Michael Ziegler liegt unruhig eingebettet in einem mal mehr, mal
weniger starken System autonomer Linien, die ihre je spezifischen Ausdruckswerte erzielen.
Bisweilen kann sich ein Muster an der Wand oder ein Signum auf dem Boden
verselbständigen. Im Lebensfaden ist das zum ikonographisch logischen Selbstzweck
erhoben. Der Mann im Bett erhält seine Charakterisierung über das beklemmende Ornament
seiner Bettdecke, die wohl erahnen lässt, was sich darunter alles abspielen mag. Flirrende
Pünktchen flankieren die zwei Protagonisten beim Spiel mit den Marionetten und geraten zu
Ausdrucksträgern. Die Fäden sind einzelne Striche, die zum Gleichnis für den Zeichner
werden, der mit dem Dargestellten im Bild spielt. Das Szepter der Regentschaft über das
Blatt Papier ist der Zeichenstift. Heinrich von Kleist hat in seiner beklemmend direkten
Schrift Über das Marionettentheater die Hebel an einigen Grundfragen der Kunst angesetzt,
so z.B. dass die Richtung einer Einflussnahme keine ausgemachte Sache sei: „Er versicherte
mir, daß ihm die Pantomimik dieser Puppen viel Vergnügen machte, und ließ nicht
undeutlich merken, daß ein Tänzer, der sich ausbilden wolle, mancherlei von ihnen lernen
könne“. Die Vorstellung, dass Marionetten Menschen nachahmen würden, ist auf den Kopf
gestellt. Zieglers Verankerung der Körper in seinen Bildräumen erfolgt in Nervenbahnen. In
nur scheinbar harmlosen Bewegungen und Gesten – das muss nicht unbedingt sexuell sein –
entäußert sich eine starke psychologische Komponente, die das Werk des Künstlers sanft
und unsanft durchzieht. Der Spiegeltag oder mit Spiegel zeigt schon, dass die Reflexion die
taktilen Suchprozesse im Unbewussten begleitet.
Markus Neuwirth